Ausgabe 2 - 2020 - Peter Trawny

Der Verlust der Kette.Anmerkungen zur Apokalypse

„… inmitten dieser sonnenatmenden Erde“

John Henry Mackay

 

Zwischen mir und der Natur klafft eine Lücke, ein leerer Raum, der nicht zum Raum gehört. Etwas fehlt, der Raum war einmal besetzt. Die Lücke ist das Zeichen eines Verlusts, von dem ich nicht weiß, wann er sich ereignete. Wahrscheinlich ereignete er sich nie. Wie wäre es, die Perspektive zu wechseln und zu fragen, welche Folgen dieser unvordenkliche Verlust haben wird.

 

Lücke – als würde ein Glied in einer Kette fehlen. Im Jahr 1723 erscheint ein anonym verfasstes Buch mit dem Titel Homers goldene Kette (Aurea catena Homeri). Am Beginn des achten Gesangs der Ilias nämlich ist von einer Art Tauziehen zwischen Zeus und den anderen Göttern die Rede. Zeus lässt eine goldene Kette vom Himmel herabhängen und behauptet, bei einem etwaigen Wettkampf mit den Göttern diese mitsamt der Erde und des Meeres in den Himmel ziehen zu können.

 

Der Inhalt des seltsamen Buchs ist eine Kosmogonie. Gott schafft aus dem Nichts Himmel und Erde. Dabei verändert sich das Nichts zu einer Art von Dampf, das zu Wasser wird. Wasser ist Ursubstanz. Daneben ist eine geistige Kraft tätig. Aus dem Wasser-Chaos scheidet sich das Flüchtige und das Feste zu Saurem und Alkalischem, zu Feuer oder Himmel, Luft, Wasser und Erde, den vier Elementen. Diese können einen Universalsamen in dauernder Erneuerung entstehen lassen. Er wird Spiritus mundi genannt, ist in Tau und Regen, schafft animalische und vegetabilische Organismen sowie Mineralien.

 

In dieser durchgängigen, das heißt kettenartigen, Schöpfung kann sich alles in alles verwandeln, selbst Transmutationen von Mensch zu Ochse oder von Ochse zu Mensch sind möglich. Die Verwandlungen bilden eine Ordnung: Aus Mineralischem wird Vegetabilisches, aus diesem Animalisches und dann geht’s wieder zurück. Die Schöpfungskette bildet eine derart starke Einheit, dass die Übergänge zwischen den Lebewesen fließend werden. Es sei „die Natur selbst“, die die Verwandlungen verrichte und „also keinen Zweifel in transmutatione unius in alterum“ zulasse –bizarre Darstellung dessen, was wir den „Kreislauf der Natur“ nennen (vgl. den Anfang von Walt Disneys The Lion King).

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