Sind wir je Klimatologen gewesen?
Der Klimatologe Heinrich Dove eröffnete 1837 sein meteorologisches Handbuch – eines der ersten in deutscher Sprache – mit einer Frage.
Sind wir je Klimatologen gewesen?
Der Klimatologe Heinrich Dove eröffnete 1837 sein meteorologisches Handbuch – eines der ersten in deutscher Sprache – mit einer Frage.
Wenn Wochenlang der Himmel mit einem einförmigen Grau bedeckt ist, so werden am Ende auch wir trübe, wenn es endlich oben wieder hell wird, werden auch wir heiter. So sind wir ein treuer Spiegel des Himmels über uns, wir gehen ein in seine Launen, und jeder ist in diesem Sinne nicht nur Meteorologe, sondern so zu sagen die Meteorologie selbst.1
In Abwandlung dieses Zitates will ich fragen: Sind Menschen in diesem Sinne auch alle Klimatologen? Können auch wir ein treuer Spiegel des Klimas und des Klimawandels sein? Oder ist dieser Wandel etwas, das wir zwar verkörpern, aber nicht bewusst wahrnehmen können? (Wobei das hier verwendete „wir“ nicht universell gemeint ist.) Denn heute besteht eine immer wieder vorgebrachte Behauptung darin, dass die meisten Menschen den Klimawandel nicht direkt wahrnehmen könnten. Weil der Klimawandel abstrakt und unsichtbar sei, würden die notwendigen politischen Handlungen nicht unternommen.
Es ist ein sehr heißer und trockener Tag im Juni, als mich der Hydrologe und Waldökologe Jürgen Müller am Bahnhof von Eberswalde abholt. Er bringt mich in ein besonderes Stück Wald am Ortsrand des Dorfes Britz. Das Waldstück ist von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben. Um das eingezäunte Waldstück herum erstreckt sich eine Monokultur Kiefern, deren dünne Stämme sich hart gegen den heißen brandenburgischen Himmel abzeichnen.
Im 4 ha großen Waldlabor wachsen ebenfalls Kiefern, aber auch Parzellen mit Eichen, Buchen, Lerchen und Douglasien. Hier wurde bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Zusammenhang von Wasser und Wald untersucht, indem man zum Beispiel französische oder russische Pinien nach Brandenburg verpflanzte, um festzustellen, dass die brandenburgischen aufgrund ihrer Anpassung doch am besten gedeihen. Insofern ist nicht nur die Nachhaltigkeit eine deutsche Erfindung von Förstern, sondern auch die Waldökologie, die hier ein erstes internationales Waldnetzwerk begründete. Heute erforschen Forsthydrologen der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde den Britzer Wald.
In diesem Wald steht die Kiefer, die ich bislang nur über Tweets auf meinem Bildschirm über die Plattform Twitter kennen gelernt habe (Abb. 1). Auf Twitter setzt „mein Freund, der Baum“ täglich zwei Tweets ab, die mir etwas über sein/ihr Befinden in Anbetracht veränderter Klimamuster erzählen. Auf diese Weise nutzt die Britzer Kiefer das Potential des Internet, das jeden/jede zu einem potentiellen Sender macht; sie geht an „die Öffentlichkeit“. Eingebunden ist diese mediale Praxis in die Erforschung des Ökosystems Wald, die in Zeiten sich verändernder Klimate eine über die Forstwirtschaft hinausreichende Bedeutung erlangt hat. Als „Lunge der Erde“ besitzen Wälder eine Kernbedeutung für die Abmilderung des anthropogenen Klimawandels, da sie einen wichtigen Beitrag zum Kohlenstoffhaushalt leisten.
Während wir schwitzend und verfolgt von Stechmücken durch die gepflanzten Reihen des Laborwaldes laufen, wird schnell klar, dass sich der Zugang zum Wald an der Seite von Herrn Müller stark von der eines Waldspaziergangs unterscheidet – jener Tätigkeit, die als naturnahe, gesunde und sinnvolle Freizeitbeschäftigung gilt und in Deutschland eine besonders große Bedeutung einnimmt; bei einem Spaziergang steht der Wald vor allem für den zweckfreien, ästhetischen Genuss der Natur, der alle Sinne direkt anspricht und so die Lebenskraft zu erneuern vermag. Im Waldlabor Britz hingegen geht es weniger um das eigene Befinden, sondern um das Befinden der Bäume. Sie dienen als Wahrnehmungsvermittler des Klimawandels, da sie das Klima direkt verkörpern; zum Verständnis des Baumbefindens wird der Zustand der Bäume in Zahlen und Sprache übersetzt.
Der Britzer Wald ist durch Praktiken der Kadrierung, Absteckung und Bezeichnung zu einem Labor geworden, wie es Bruno Latour in seinem fotophilosophischen Essay über den Amazonas beschrieben hat. Parzellierungen von Bäumen, gepflanzt in verschiedenen Monokulturen sowie Mischwäldern sind hier zu finden, jeder Baum ist eine Nummer, mehrere tragen rote oder blaue Stoffbänder um den Stamm, Teilquadrate sind mit Stäben und bunten Schnüren abgesteckt, manche Bäume sind verkabelt, bestückt mit Nadeln, Umfangmessern, Datenloggern, Schläuchen und Tonnen (Abb. 2). Verschiedene Baumarten sind samt Wurzelwerk in großen, eingegrabenen, wägbaren Behältern („Lysimetern“) von der umgebenden Erde und durch Abdeckungen auch vom Regen isoliert. Sie erlauben systematisches Bewässern oder Nicht-Bewässern im Vergleich. Es gibt einen Versuch, bei dem die Forscher zwei kleinen Eichen über die Sommermonate hinweg gezielt keinen einzigen Tropfen Wasser gewähren („In den Baumhimmel komme ich nicht“, sagt Jürgen Müller). Die Durstpatienten sind etwas kleiner als der Kontrollbaum in Freiheit, überleben aber und teilen sich das Wasser inzwischen sogar ein – der Wald scheint aus Extremerfahrungen die Vorsorge zu lernen. Die twitternde Kiefer wiederum steht in einer reinen Kiefernwaldparzelle neben dem Freifeld zur Wettermessung.
Interessanterweise wurde das Klima zu Beginn der Klimaforschung um 1800 noch nicht allein durch Datenerhebungen mit Hilfe von Messinstrumenten wie Thermometern oder Barometern bestimmt. Alexander von Humboldt beispielsweise vertraute stattdessen zunächst den menschlichen Wahrnehmungsorganen. Erst an die zweite Stelle setzte er die „Erfindung neuer Organe“2 wie Thermometer oder Barometer sowie die Statistik der Messungen. Es ist eine ganzheitliche Ästhetik des leiblichen Fühlens, die den Tastsinn einschließt und die Humboldt als Grundlage einer umfassenden Wahrnehmung der Natur sowie des Klimas betrachtete:
Das Wort Klima umfasst in seinem allgemeinsten Sinne alle Veränderungen in der Atmosphäre, die unsere Organe merklich affizieren: die Temperatur, die Feuchtigkeit, die Veränderungen des barometrischen Drucks, den ruhigen Luftzustand oder die Wirkung ungleichnamiger Winde, die Größe der elektrischen Spannung, die Reinheit der Atmosphäre oder ihre Vermengung mit mehr oder minder schädlichen gasförmigen Exhalationen, endlich den Grad habitueller Durchsichtigkeit und Heiterkeit des Himmels.
Klima, so Humboldt weiter, sei nicht nur für das Wachstum der Pflanzen und die Reifung ihrer Früchte wichtig, „sondern auch für die Gefühle und ganze Seelenstimmung der Menschen.“3 Humboldt zufolge ist das Klima der ästhetisch wahrnehmbare Fall einer durch Licht, Feuchtigkeit, Luftdruck und Temperatur „gestimmten Atmosphäre“ (Gernot Böhme), also ein phänomenologisch zusammengewirktes ästhetisches Gebilde, das alle in ihr lebenden Organismen unmittelbar durchdringt, prägt und betrifft. Hier scheint eine untrennbare Korrelation zwischen Klima und Kultur auf, die heute erneut zu thematisieren wäre. Denn auch die menschliche Existenz, so der japanische Philosoph Watsuji Tetsuro (1889-1960), der diesen Gedanken zum Bestandteil seiner Philosophie des menschlichen Daseins machte, ist bestimmt durch das Klima. Klimatisch gestimmt ist damit auch die Geschichtlichkeit der Kultur, wobei Watsuji (wie zuvor bereits Johann Gottfried Herder und Alexander von Humboldt) diesen Wirkungszusammenhang nicht monokausal im Sinne eines einseitigen Klimadeterminismus dachte. Stattdessen bindet er diesen Gedanken in den Versuch ein, die menschliche Existenz in ihrer zeitlichen Daseinsstruktur, die eingebettet in den Raum ist, zu verstehen.4
Humboldt zufolge waren Menschen (wie die übrigen Lebewesen) alle Klimatologen. Sie erfuhren, verkörperten und spürten die unterschiedlichen Klimate auch ohne Wetterapps und Instrumente. Sie lebten eingetaucht und umhüllt vom Element Klima wie Fische im Medium Wasser. Das Klima ging als „gestimmte Atmosphäre“ direkt in ihren Körper- und Gefühlshaushalt ein.
Es fragt sich also, wieso es insbesondere den modernen Menschen in Industrienationen an der Fähigkeit mangelt, das Klima und die Symptome der klimatischen Krise selbst wahrzunehmen. Moderne Menschen verbringen die größte Zeit ihres Lebens in diversen Klimakapseln ohne direkten Zugang zu Lebewesen, die die Auswirkungen des Klimas durch Blütezeiten oder Trockenheit erfahrbar machen. Was bei diesen Fragen ins Zentrum rückt, sind die generellen Wahrnehmungsmöglichkeiten der Klimakrise unter den gegenwärtigen, ästhetisch-medialen Bedingungen. Denn das ästhetische Paradigma der Naturwahrnehmung hat sich seit dem 19. Jahrhundert signifikant verschoben. Während damals die atmosphärische Wahrnehmung noch als Resultat verschiedener epistemischer Kulturen des Sensing gefasst wurde, die gleichberechtigt nebeneinander standen – also Gefühle, Affekte, Messungen und Beobachtungen – , ist heute ein Primat medientechnischen Sensings zu beobachten, das nicht nur die Wissenschaften, sondern auch immer weitere Lebensbereiche im Alltag unter dem Druck der Selbstverbesserung erfasst. Dies sind z.B. Gesundheits- oder Sportapps wie die „Drink-Water-App“, die das eigene Trinkverhalten kontrolliert. Derartige Applikationen (applicatio, lat. „sich anschließen“) sind Symptom dafür, wie Menschen auch ohne Laborbedingungen die Regelung ihres eigenen Bewässerungshaushalts an Technik delegieren. Beide, die eigene Körperwahrnehmung sowie die Wahrnehmung der Natur, werden über dazwischen geschaltete Sensoren, Statistiken und Displays vermittelt und gemanagt. In Abwandlung von Walter Benjamins Idee des optisch Unbewussten, das sich mit der Kamera enthülle, wird deutlich, dass es eine andere Natur ist, die über Daten und Twitter spricht als diejenige, die mit dem Sensorium eines Körpers kommuniziert.
Für diesen Fragenzusammenhang ist das Beispiel twitternder Bäume besonders sprechend. Denn an ihm zeigen sich die Grenzen und Möglichkeiten der gegenwärtigen Klimakrisenwahrnehmung. Es waren internationale ForscherInnen, die vor wenigen Jahren gezielt begannen, eine neue Waldkommunikation auf der Plattform Twitter zu etablieren, medial begleitet von Artikeln in Zeitschriften mit Titeln wie „Der Wald geht online“. Die Zahl der Bäume, die seither auf Twitter zu finden sind, steigt in der letzten Zeit stetig an. Sie sind Teil der Ontologie des Internet, die bekanntlich lautet, es gibt nur, was sich auch im Netz finden lässt. Zum „Internet der Tiere“ (Alexander Pschera) tritt das „Internet der Bäume“.
Die „Follower“ twitternder Bäume können bezeugen, dass hier eine neue Form des „Nature Writing“ entsteht, jener Form der Poetik, die die natürliche Umwelt zum Gegenstand macht und sich im 19. Jahrhundert in den USA entwickelte – und die der Literaturwissenschaftler Timothy Morton unter dem Stichwort „Öko-Mimese“ als eine Naturerfahrung zweiter Ordnung mit einem mitunter ironischen Unterton kritisch betrachtete. Denn die Fallhöhe zwischen Nature Writing und dem Niveau einer Waldtapete ist groß. Mit den twitternden Bäumen kommt Nature Writing gleichzeitig an ein Ende wie an einen Neuanfang.
Die brandenburgische Kiefer, die in Britz steht, findet sich unter dem Account TreewatchBritz. In der Bildschirmkommunikation spricht sie aber weder „bäumisch“, noch brandenburgisch, sondern englisch: „I am a Scots pine (Ø = 26.1 cm) in Germany (Britz) in a forest of the Thünen Institute of Forest Ecosystems.” Jeden Tag erscheinen zwei bis drei neue Tweets. Z.B. am 24. Mai 2017: „My sap has started flowing!” 26. Mai: „Today I have grown 0.037 mm, transported 2.7 L of water at a maximum speed of 0.3 L/h.” Später am Tag: „My sap is stopping to flow for today. The maximum speed was 0.2 L/h.” 28. Mai: „During this warm day (max 26.7˚) I lost 114 L of water and my max sapflow was 9.4 L/h – tough day.”
Die Tweets werden aus den digital erhobenen Baumdaten verfasst. Diese werden über WLAN und Internet direkt ins Zentrum des Baumbeobachtungsnetzwerks nach Ghent gesendet. Die MitarbeiterInnen in Ghent sind es, die die Daten in Nachrichten verwandeln. Es ist klar, dass diese Prosa selbst im Vergleich mit der nüchternsten Form des Nature Writings kaum standhalten kann. Ich möchte an dieser Stelle jedoch – literarisch abwertenden Geschmacksurteilen zum Trotz – tiefer in die Diskussion dieses Beispiels eindringen, da es auf mehreren Ebenen etwas Grundlegendes über das Verhältnis von medial vernetzten Menschen und Natur erzählt.5
Die Verschiebung vom Baum als Objekt, über den geschrieben wird, hin zu einem Subjekt, das in der 1. Person Singular als selbst schreibend inszeniert wird, ist hierbei aufschlussreich. Gleichzeitig gehört es auch zum Charakteristikum des Nature Writings, die eigenen Naturerfahrungen als Ich-Erlebnisse wiederzugeben – nur, dass sich hier der Baum selbst zu erfahren scheint.
Die Subjektwerdung der Bäume, die diese als Charaktere anspricht, kann mit der langen Geschichte der Mythen, Sagen und Märchen in Verbindung gebracht werden, bei denen sprechende und magische Bäume oftmals im Zentrum standen. Orakelbäume weissagen die Zukunft und warnen vor Gefahr.6 Die Mythen sind tief im Baumbewusstsein „verwurzelt“, da Bäume und Wälder eine grundlegende Rolle für die Vorstellung der Umwelt spielten und bis heute spielen. Betrachtet aus dieser historischen Perspektive, erscheint es sogar ungewöhnlich, Bäume nicht mehr als Subjekte anzusprechen.
Zugleich verdeutlicht die Subjektwerdung aber auch, wie die vorprogrammierten Publikationsbedingungen von Twitter eine solche Subjektwerdung unterstützen oder vielmehr einfordern. Die Bäume verwandeln sich in AutorInnen. Damit werden sie auf der Social-Media-Plattform Twitter zudem selbst sozial. Nun ist es möglich, „Tree Hugging“ auch unter medialen Bedingungen auf einer tele-symbolischen Ebene zu praktizieren. Indem die WissenschaftlerInnen den Bäumen mittels wissenschaftlicher Instrumente das Rederecht ermöglichen, sozialisieren sie diese potentiell für eine kollektive „Politik der Subjekte“ (Bruno Latour).7
Die twitternden Bäume haben viele Follower, einige von ihnen sind andere Bäume, die ebenfalls auf Twitter sind. Sie sind eingebettet in ein Netzwerk zur Waldbeobachtung, das unter dem Namen TreeWatch.net zusammengeschlossen ist. Ziel des Netzwerkes ist es zu erforschen, wie Bäume auf die veränderten Wetterbedingungen des Klimas reagieren, ob und wie Bäume Resilienzen entwickeln, die sie längere Hitzephasen, Trockenheit, verlängerte Vegetationsphasen und warme Winter überstehen lassen. Im Beobachtungsnetzwerk werden die Bäume ähnlich wie Patienten auf der Intensivstation überwacht. Gemessen werden die Geschwindigkeit des Wachstums sowie die Mengen an Wasser („Saft“), die im Baum täglich fließt. Die Messungen verraten auf diese Weise etwas über die Auswirkungen des Klimas auf die Bäume, also auch die Effekte neuer Extremwetterphasen. In Anbetracht des Forschungszieles liest sich der Tweet einer Eiche in Ghent als flehender Hilferuf: „Hot, hot, hot – low air humidity is causing much water loss!”
Der Wiederhall in den Medien auf die twitternden Bäume ist ebenfalls bedenkenswert. In der Resonanz zeigt sich, wie diese twitternden Bäume zu wichtigen Zeugen und Kommunikatoren werden, die den Klimawandel, der im Alltag der meisten abstrakt bleibt, wahrnehmbar machen. Die Vermittlung ist wirksam aufgrund der nicht zu unterschätzenden Symbolkraft des Baumes, die mit der Subjektwerdung zusammenhängt. Mythologisch ist der Baum ein Alter Ego des Menschen. Er gilt als Baum des Lebens, als Sinnbild der sich stets erneuernden Natur und damit als Symbol des Schicksals der Menschen. In der Konsequenz bedeutet dies: Umweltbewusstsein und „Baumbewusstsein“ sind miteinander verbunden – „Wo der Baum stirbt, stirbt der Mensch.“ (Lutz Röhrich). Dieser Zusammenhang wird durch die twitternden Bäume konkret.
Auf diese Weise vermögen die twitternden Bäume zu vermitteln, wie die Bäume unter dem neuen Stress veränderter Wettermuster leiden. Dies ist jedoch kein simpler Anthropomorphismus. Die Baumvernetzung erzeugt vielmehr einen Rahmen der Sorge, ein textlich vermitteltes Baumbewusstsein. Am deutlichsten wird die Sorge in der Reaktion eines Followers, der auf den durstigen Tweet der Eiche in Ghent antwortete „Give him/her some water, please”. Dies jedoch wird nicht geschehen, denn der Forschungsrahmen verbietet, die twitternden Bäume zum Teil einer Twitter-gesteuerten Gießanlage zu machen. Stattdessen werden sie dem „natürlichen“ Wetter, also ihrem Schicksal des menschengemachten Klimawandels überlassen.
Das Abzapfen der Daten
Im Versuchswald fallen die zahlreichen Kabel auf, von denen der Waldboden bedeckt ist. Schläuche und Stromleitungen stecken im Boden und in den Bäumen. Sie ziehen sich zwischen den Bäumen entlang. Kabelstränge führen zu Datenloggern, zu Verteilerbuchsen sowie zu den niedrigen Holzgebäuden, in denen die Techniker des Waldes werken.
Dies ist ein anderes Netz als das Netz der Bäume und Pilze, das zurzeit als kollektiv fühlende und kommunizierende Waldintelligenz viel Beachtung erhält. Die Verkabelung der Bäume erzeugt vielmehr das Bild einer von Technik vollständig durchdrungenen Natur, einer unauflösbaren Verflechtung technischer und natürlicher Systeme zu einer immer dichter verwobenen NatureCulture (Dona Harraway) oder MediaNature (Marie-Luise Angerer) (Abb. 4).
An Orten wie diesen wird eine tertiäre Natur als Teil der Technosphäre sichtbar, für die die infrastrukturelle Durchsetzung der elementaren Natur mit Medientechnik steht. Naturwahrnehmung ist heute meistens zuerst Medienwahrnehmung.
Betrachten wir die Schnittstelle zwischen Baum-Natur und Baum-Technik genauer, die Baum- und Umweltbewusstsein kurzschließen soll. Diese erinnert zunächst an die Kulturtechnik des botanischen Pfropfens, bei dem verschiedene Obstbaumsorten zusammengefügt werden und die Wunde nach außen mit Baumwachs abgedichtet wird. Diese Kulturtechnik hat Uwe Wirth zu einer ganzen Medientheorie der Hybridisierung ausgearbeitet. Bei der mit Messfühlern überwachten Kiefer jedoch fügen sich die unterschiedlichen Bereiche nur auf der bildlichen Ebene zusammen. Die Stelle, an der die Sensoren zur Messung der Fließmenge des Baumsaftes in die Rinde mit ihren Kanülen eindringen, erinnert eher an das Abzapfen von Baumharz wie im Falle der Säfte von Ahorn oder Kautschuk. Die graue Knetmasse, die so sorgfältig um die in den Baum führenden Kabel modelliert wurde, verschmilzt Natur und Technik nicht im Sinne einer Synthese des Zusammenwachsens. Stattdessen wird die Schnittstelle für eine sichere Datenabzapfung gesichert, für die ein Zusammenwachsen nicht nötig ist.
Anders als eine optische Wahrnehmung oder aber ein (in Abwandlung Walter Benjamins Äußerung zum Unterschied von Maler und Kameramann) magisches Berühren mit der Hand, dringt das Sensorium zur Überwachung der Bäume wie das Besteck eines Chirurgen tief in den Baum ein, um über die Erfassung seiner Daten mit diesem in Kontakt zu treten.
Die Praxis, in der Natur zu malen, entwickelte sich fast parallel zum Nature Writing im 19. Jahrhundert, als Künstler systematisch nach draußen gingen, um ihre direkten Naturerfahrungen vor Ort auf das Papier zu bringen. Knowles zitiert die grundlegende Anordnung der Landschaftsmalerei, die aus Maler-Subjekt und Natur-Objekt besteht, vertauscht jedoch die Rollen dieser Konstellation eines kontemplativen Zugangs zur Natur. Der Ast eines Baumes erscheint nun anthropomorphisiert. Er sieht aus wie ein Arm, der seinen Zeichenstift gezielt über das Skizzenpapier führt. Statt eines menschlichen Bewegers ist es die Kraft des Windes, die den Ast bewegt. Das Resultat sind die feinen Spuren schwingend-kreisender hin-und-her-wippender Bewegungen auf dem Papier. Aus diesem Grund erinnert die Zeichenanordnung an die berühmten Zeichnungen der Luft- und Wasserwirbel Leonardo da Vincis, in denen sich die elementaren Urkräfte ebenfalls als Linienwirbel zeigen. In der Auswechslung des Künstlersubjekts klingen aber auch Werke der Animal Art an, bei der Tiere zu KünstlerInnen werden. In beiden Fällen ist das exklusive Monopol menschlicher AutorInnenschaft und Ästhetik in Frage gestellt.
Die Frage, die sich in der Betrachtung derartiger Werke stellt, könnte lauten: Ist dies ein alternativer „Pencil of Nature“ wie ihn Henry Fox Talbot 1844 für die Photographie als objektive Wiedergabe der Natur postulierte? Eine Form der „Dendrographie“, die anstelle des Lichts (photós) den Baum (dendron) zum Zeichnen bringt? Was hätte wiederum der Physiologe Jules Etiennes Marey zu dieser Form der pflanzlichen Selbstaufzeichnung in seiner Methode Graphique (1878) gesagt, mit der er die Bewegung von Wirbeltieren und Menschen durch automatische Linienschreiber erforschte? Erzeugt der Baum hier einen grafischen „Ausdruck“ des Baumes selbst, eine Sprache der Phänomene?
Betrachtet man die resultierenden Zeichnungen, ist eher eine Kakophonie unterschiedlicher Stimmen zu erkennen, unklar bleibt, ob und wer – welche Materie – hier überhaupt spricht. Der Rollentausch von MalerIn und Baum bringt vielmehr das Ideal einer sich selbst einschreibenden Natur ans Licht, die als Sprache für eine geglückte Baumkommunikation Linien, Zahlen und Buchstaben betrachtet. In dieser Weise verweist die Konstellation auf das Ideal einer direkten Inskribierung von Natur und damit eben wirklich einer „Sprache“ der Phänomene selbst. Diese ist Teil der Naturwissenschaft, die Mittel und Wege sucht, so direkt wie möglich die Phänomene der Natur zu verstehen. Sie ist aber auch Teil der Naturästhetik, also z.B. des öko-mimetischen Nature Writings, die Natur so direkt wie möglich erfahren möchte und dabei Welt in Sprache übersetzt. Natur zu verstehen, geht einher mit dem Wunsch, diese zum Sprechen zu bringen.
Die Proxy-Natur
Die Rolle von Bäumen war und ist bis heute in der Meteorologie bzw. Klimaforschung oftmals die von Proxies – Stellvertretern, von denen man in Ableitung etwas über andere Phänomene erfahren kann. Unter diesem Blickwinkel lassen sich zahlreiche „Tree Drawings“ bzw. „Nature Writings“ fassen. Frühe Windkarten von Tornados beispielsweise kartografierten den Gang des Sturmes über das Muster umgefallener Bäume. Ein weiteres Beispiel ist die zentrale Beweisgrafik des Klimawandels. Die sogenannte „Hockeystick-Grafik“ verzeichnet über den Schritt der chemischen Analyse von Baumringen die Temperaturverläufe auf der Nordhemisphäre während der letzten 1000 Jahre.
Insofern muss genau betrachtet werden, wie die Natur mittels Medien zum Sprechen gebracht wird, wenn es nicht mehr das erste Medium Körper ist, das die Natur erfährt. Es ist eben nicht die Wahrnehmungsschule des Waldläufers und -lehrers Henry Thoreau (1817-1862), welche die Praxis der Naturwahrnehmung seither dominierte (außer in den seltenen Momenten gegenwärtiger Waldpädagogik für Kinder, für die „Sehen, Fühlen, Riechen, Hören und Tasten“ noch im Mittelpunkt stehen darf). Thoreaus Ideal bestand darin, an der Grenze einer umfassenden Zivilisierung und Industrialisierung seiner Zeit, sich mit „hochgeklapptem Visier, das heißt wachem Sensorium und einer entsprechenden mentalen Gestimmtheit […] mit dem göttlichen Puls der Natur kurzzuschließen“8 (Frank Schäfer), also mit dem Körper als Leitmedium spürend und lauschend wie ein Ureinwohner Nordamerikas durch die Wälder von Middlesex County zu streifen.
Es stellt sich deshalb die Frage, wie die seither immer weiter abnehmende Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit des ersten Mediums, also des Körpers, erfahren wird oder vielmehr wie die neuen technischen Schnittstellen, also z.B. die wie Parasiten mit Bäumen verbundenen Sensoren, diesen Verlust in den Blick zu bringen vermögen; aber auch inwiefern derartig neue Praktiken einer Naturvermittlung gleichzeitig die Hoffnung auf neue Arten und Weisen, den Klimawandel wahrzunehmen, schüren. Denn die dominante Naturwahrnehmung vieler Menschen heute ist eine verstellte in Form einer Proxy-Natur – eine Wahrnehmung über (mediale) Stellvertreter.
Vielleicht nimmt der Traum sich mit „der Natur“ zu verbinden und sich als Teil der Ökologie zu spüren in den Fantasien futuristischer Garten- und Waldstädte sowie urbaner Landwirtschaft gegenwärtig eine neue Form an. Die visionären Entwürfe von Architekten wie Sou Fujimoto und Vincent Callebaut oder der realisierte „Bosco Verticale“ Stefano Boeris sowie der Stadtpark „Trees by the Bay“ in Singapur (Abb. 6) verkörpern den Traum eines gesunden Zusammenwachsens von Bäumen mit Häusern und technischen Strukturen – heute natürlich geplant nach dem Leitbild der „Smart City“, der empfindsamen Umwelt einer allwissenden Technik. Sie verraten die immer noch wirksame Sehnsucht einer Heilung des Bruches von Natur und Zivilisation, von Stadt und Wald, den Traum von der Möglichkeit eines symmetrischen Verhältnisses zwischen beiden Sphären. Die alte Angst vor einer feindlichen und gefährlichen Natur wird in diesen Plänen symbolisch verdrängt durch das Bild zweier verheilender Sphären. Diese verbinden sich jedoch wie die Schnittstelle der Sensoren im Baum nur visuell. Die Ökomimese in der Stadt ist heute das neue Symbol einer bezwungenen Natur, wie es früher die Barockgärten darstellten.
Dass die „Natur […] der unorganische Leib des Menschen [ist]“, äußerte bereits Karl Marx.
Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozess bleiben muss, um nicht zu sterben. Dass das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn, als dass die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.9
An dieser Stelle wird ein fiktiver Baum aus einer zeitgenössischen Geschichte interessant. Die Idee der Natur als Leib und existentielle Betroffenheit des Menschen wurde im 3d-SciFi-Film Avatar mit dem „Baum der Seelen“ des Planeten Pandora narrativ umgesetzt, als hätte Marx die Vorlage gebildet. Dieser Baum ist ein Baum des Wissens, der selbst alles weiß, ein Weltenbaum im mythologischen Sinne, der die Elemente Erdreich und Himmel gleichermaßen umspannt. Er ist mit dem Nervensystem der Na’vi-Menschheit von Pandora verbunden. Die Idee eines weltumspannenden-filigranen Netzes aus Baumwurzeln und Nervenbahnen entwirft so das Bild eines kollektiv spürenden Organismus, der Subjekt und Umwelt in seinem globalen Sensorium gemeinsam zum Spüren bringt. Die mit diesem Netz verbundenen Menschen vermögen es, eine unmittelbare Verbundenheit mit der elementaren Natur zu empfinden.
Ein solches Baumnetz würde die Krise der Umwelt am eigenen Körper spüren, es wäre ein empfindsames Nervennetz und damit die Klimakrise selbst. Im Bild des globalen Nervennetzes, das auch zur Metaphorik des Internet gehört, klingt die Hoffnung an, die auch im twitternden Tree.net leitend zu sein scheint: dass die über den Baum hergestellte Verbindung zu einer sympathisch-mitleidenden Wahrnehmung der Krise führen könne. Und dies in einer Welt, wo Displays sogar die eigene Körpererfahrung verdaten, weil selbst die eigenen Körpergefühle wie Durst oder Puls nur abgespalten wahrgenommen werden. Der Körper des Baumes wird medial abgetastet, um zu spüren, was aufgrund medialer Einrüstung nicht mehr spürbar ist. Es ist wohl eher die Hoffnung oder Sehnsucht, durch einen Anschluss an die Baum-App einen neuen Zugang zu den Urmythologien der Bäume zu legen, also ein neues Narrativ zu finden, das Menschen erfahren lässt, was die Störungen des Klimawandels kulturell bedeuten werden.
1Heinrich Dove: Meteorologische Abhandlungen. Berlin 1837, S. 3.
2Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Frankfurt a. M. 2004 (zuerst 1845-1862), S. 384.
3Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Stuttgart/Tübingen 1845–1862, S. 340.
4Vgl. Watsuji Tetsuro: Fudo – Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur. Übersetzt [aus dem Japanischen] und eingeleitet von Dora Fischer-Barnicol und Okochi Ryogi. Berlin 2017, S. 23f.
5Die twitternden Bäume betrachtete auch Marie-Luise Angerer im Rahmen ihrer Ausführungen zu Affekt, Ökologie und spekulativem Realismus, die in ihre Schrift Affektökologie. Intensive Milieus und zufällige Begegnungen, Lüneburg 2017, einflossen. Die in ihrem Buch entwickelten Gedanken stehen im Zentrum eines gemeinsam entwickelten Forschungsprojektes, das eine theoretische Bestimmung sensorisch ausgestatteter, empfindsamen Umwelten unternimmt.
6Lutz Röhrich: Der Baum in der Volksliteratur, in Märchen, Mythen und Riten. In: Adrien Finck (Hg.): Germanistik aus interkultureller Perspektive. Collection Recherches Germaniques 1. Strassburg 1988, S. 9-26.
7Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Frankfurt a. M. 2001, S. 92.
8Frank Schäfer: Henry David Thoreau – Waldgänger und Rebell. Eine Biographie. Berlin 2017, S. 34.
9Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. Marx-Engels-Werke Bd. 40. Berlin 1990, S. 516.
Klimabilder
Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel
464 Seiten, Gebunden
Erschienen: 2018
ISBN: 978-3-95757-545-6
Preis: 32,00 €