Der Tagliamento ist ein, ja, man muss wohl sagen: der Fluss des Friaul. Er entspringt am Mauriapass in den südlichen Karnischen Alpen und mündet nach ca. 170 km bei Bibione in die Adria. Einmalig in Europa ist der Tagliamento, weil er bis weit in die Ebene hinein unreguliert fließt. Wenn er denn fließt. Häufig nämlich liegt er trocken und zeigt nur sein breites Bett. Es besteht aus der schier unüberschaubaren Spur der Steine, die der Fluss sich aus den Bergen mitgebracht hat und die er mit seinen Wassern seit Jahrtausenden bearbeitet. In den langen Bahnen der Schotterflächen haben sich kleine Inseln gebildet mit Strauch und Blumenbewuchs, ausgedehnte Auwälder säumen die Welt der Steine: Der Tagliamento ist ein einzigartiges Ökosystem mit hoher Biodiversität: ein Eldorado für Biologinnen wie Geologen.
Diesem Fluss, der seit einigen Jahren für Esther Kinsky quasi vor der Haustür liegt, hat sie ihr jüngstes lyrisches Werk gewidmet. Schreibend erkundet sie aber nicht das
vermeintliche Naturparadies, sondern das, was sie unter einem »gestörten Gelände« versteht: ein Terrain, in dem Menschen-, Natur- und Erdgeschichte ein unentwirrbares
Geflecht bilden, ein Natur-Mensch-Überlappungsgebiet, das übersäht ist auch mit Zeichen wechselseitiger Versehrungen.
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